Neuerliches Defizit bei der gesetzlichen Krankenversicherung offenbart Reformstau
Die Bilanz des ersten Halbjahres 2002 der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) weist ein Defizit von 2,4 Mrd. Euro aus. Verantwortlich hierfür ist insbesondere die anhaltende, konjunkturell bedingte Einnahmeschwäche der Krankenkassen trotz Anhebung der Beitragssätze zum Jahresbeginn um 0,4 Prozentpunkte auf durchschnittlich 14%. Mit welcher Strategie dem Kollaps des Gesundheitssystems vorgebeugt werden könnte, ist – auch nach der Bundestagswahl – derzeit nicht erkennbar.
Reformvorhaben, selbst in kleinem Stil, scheinen auf der Stelle zu treten. Die Stärkung von Patientenrechten, von der konzertierten Aktion im Gesundheitswesen im Jahresgutachten 2001/2002 angemahnt, steht nach wie vor oben auf der Tagesordnung. [Mehrdazu]. Die geplanten Disease-Management-Programme, vor der Wahl noch kurzfristig von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) blockiert, sorgen auch nach der Wahl weiter für Verstimmung. Der Vorsitzende der KBV, Dr. Richter-Reichhelm, wirft nun den Krankenkassen vor, dass es ihnen nicht um die Qualität der Versorgung chronisch Kranker, sondern lediglich um die Beschaffung zusätzlicher Finanzmittel aus dem Risikostrukturausgleich (RSA) geht. [Mehr dazu]
Wie hingegen die GKV auf eine solide finanzielle Basis gestellt und in ihrer Struktur möglicherweise richtungsweisend erneuert werden könnte, zeigen die beiden nachfolgend skizzierten Reformkonzepte.
Das „Berliner Konzept“ wurde unter der Federführung von Prof. Beske vom Kieler Institut für Gesundheits- und Systemforschung entwickelt. Verkürzt wiedergegeben, entlastet das Expertenkonzept die GKV und belastet die öffentliche Hand, z.B. durch Senkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel. Mit einer Entlastung um bis zu 14 Mrd. Euro rechnen die Autoren dieses Konzepts. Eine weitere Forderung der Expertengruppe ist, die Beitragsbemessung auf alle Einkommensarten auszuweiten und nur dann die Versicherungspflichtgrenze vorsichtig anzuheben. [Mehrdazu]
Unterstützung erfährt die Gruppe um Prof. Beske durch eine Expertise der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Eckpunkten einer neuen Gesundheitspolitik. In ihr wird ebenso die Erweiterung der Beitragsbemessungsgrundlage sowie eine Neuregelung der Versicherungspflichtgrenze gefordert. Auch versicherungsfremde Leistungen aus dem derzeitigen Leistungskanon der GKV herauszunehmen und aus Steuermitteln zu finanzieren, gehört zu den dort genannten Forderungen. Wettbewerb unter klaren Rahmenbedingungen ist die Prämisse für das Gesundheitssystem, staatliche Organe fungieren als Wettbewerbshüter. Der Finanzausgleich zwischen den Kassen soll beispielsweise ausschließlich morbiditätsorientiert vorgenommen werden. Um Leitlinien zu erarbeiten sowie neue Therapien und Arzneimittel zu bewerten, soll ein unabhängiges Institut eingerichtet werden. [Mehr dazu]
Eine Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze von 3.375 € auf 4.500 € nimmt Konturen an. Damit will das Gesundheitsministerium die Abwanderung aus der gesetzlichen Krankenversicherung stoppen. Die Beitragsbemessungsgrenze soll allerdings nicht angetastet werden.
Beide Konzepte sehen die Ausweitung von Prävention als zentrale Aufgabe der Gesundheitspolitik. Das Gesundheitsministerium unterstreicht dieses ebenfalls als eines der wichtigsten gesundheitspolitischen Ziele. [Mehr dazu]
Die Gesundheitsausgaben werden individuell und insgesamt steigen. Der demographische Wandel wird das Einnahmeproblem verschärfen. Beide Konzepte können eine Systementlastung zweifelhaft. Die Entlastungen des GKV-Systems würden auf der einen Seite die Staatsfinanzen (höhere steuerfinanzierte Ausgabenlast) belasten und zu höheren finanziellen Belastungen für die Versicherten durch die Erweiterung der Beitragsbemessungsgrenze auf andere Einkommensarten führen.
IPG-Newsletter Gesundheitsfoerderung 02/02 (22.Okt.02)