Aus dem Bereich Evaluation: „Gesundheitliche Beeinträchtigungen und Studienabbruchneigung – Zur Rolle akademischer und sozialer Integration“
Elisabeth Freer
08.11.2024
Studierende sind eine sehr heterogene Gruppe. Der vorliegende Beitrag legt den Fokus auf Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die oft zusätzlich zu studienbezogenen Belastungen auch gesundheitsbedingten Belastungen ausgesetzt sind, die ihren Studienerfolg beeinflussen können. In meiner Masterarbeit habe ich untersucht, ob es Unterschiede in der Studienabbruchneigung zwischen Studierenden mit und ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen gibt und welche Rolle die akademische Integration (vorläufige Leistungen und Leistungsselbsteinschätzung) und die soziale Integration (Beziehung zu Kommiliton*innen und Lehrenden) dabei spielen.
Gesundheitliche Beeinträchtigungen können vielfältig sein. Sie umfassen physische Beeinträchtigungen (z. B. Geh- und Sehbeeinträchtigungen), chronische Erkrankungen (z. B. Asthma und Diabetes), psychische Beeinträchtigungen (z. B. Depression und Angststörung) sowie Lernbeeinträchtigungen (z. B. Lese-Rechtschreib-Schwäche). Die Symptome, der Verlauf und die alltäglichen Belastungen variieren je nach Art und Ausprägung der gesundheitlichen Beeinträchtigung und beeinflussen das alltägliche Leben von Betroffenen – auch im Studium. Eine Studie, die die Situation von Studierenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Deutschland untersucht hat, ist die best3-Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (Steinkühler et al., 2023). Die Studie zeigte, dass Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine höhere Studienabbruchneigung als ihre Kommiliton*innen ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen aufwiesen. Gleichzeitig gaben sie weniger Kontakt zu anderen Studierenden an und schätzten die eigenen Leistungen selbst bei gleichen Noten geringer ein.
Das Modell des Studienabbruchs nach Tinto (1975) besagt vereinfacht, dass die Entscheidung für oder gegen einen Studienabbruch wesentlich von der akademischen und sozialen Integration der Studierenden abhängig ist. Je stärker beide Formen der Integration ausgeprägt sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines Studienabbruchs. Das Gelingen der akademischen Integration kann an den Studienleistungen und der intellektuellen Weiterentwicklung abgelesen werden, während die soziale Integration die Beziehungen zu Kommiliton*innen und Lehrenden beschreibt. Eine graphische Darstellung des angepassten Modells, das ich für meine Masterarbeit genutzt habe, zeigt die Abbildung 1.
Abbildung 1.
Graphische Darstellung des angepassten Modells
Anmerkung. Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Tinto (1975).
Mithilfe von Regressions- und Mediationsanalysen bin ich der Frage nachgegangen, inwieweit Unterschiede in der Studienabbruchneigung zwischen Studierenden mit und ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen tatsächlich auf Unterschiede in der sozialen und akademischen Integration zurückzuführen sind. In den Analysen wurden die vorläufige Leistung im Studium (Note) und die Skala „Leistungsselbsteinschätzung“ zur Messung der akademischen Integration verwendet. Die soziale Integration wurde anhand der Skalen „Peer-Beziehung“ (Beziehungen zu Kommiliton*innen) und „Lehrenden-Studierenden-Beziehung“ (Beziehungen zu Lehrenden) erfasst. In den Analysen wurden zusätzlich folgende Variablen berücksichtigt: das Geschlecht, das Alter, der sozioökonomische Status (gemessen durch den höchsten Bildungsabschluss der Eltern), der Migrationshintergrund, das Einhalten der Regelstudienzeit, die Fächergruppe des Studiengangs und die Note der Hochschulzugangsberechtigung. Den Analysen lagen Daten der zentralen Studierendenbefragungen der Freien Universität Berlin zugrunde. Es wurden vier Befragungen der Bachelor- und Masterstudierenden der Jahre 2013, 2015, 2017 und 2019 genutzt und zu einem großen Datensatz zusammengefasst. Dieser umfasst 11 758 Studierende, wovon 11 % eine gesundheitliche Beeinträchtigung angaben.
Die Ergebnisse bestätigten, dass Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine höhere Studienabbruchneigung berichteten als ihre Kommiliton*innen ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen. Zudem zeigte sich, dass diese Gruppe eine etwas schwächere akademische Integration, in Form geringerer Leistungen und Leistungsselbsteinschätzungen, aufwies. Auch die soziale Integration war bei Studierenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen geringer ausgeprägt, sowohl im Hinblick auf die Beziehung zu Lehrenden als auch zu Peers. Zusätzlich hat sich gezeigt, dass die Gruppenunterschiede in der sozialen Integration im Vergleich zu den Gruppenunterschieden in der akademischen Integration höher ausfielen. Die Ergebnisse der Mediationsanalysen zeigten, dass die höhere Abbruchneigung von Studierenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zum Teil über ihre geringere akademische und soziale Integration erklärt werden kann. Auch bei gleicher akademischer und sozialer Integration hatten sie allerdings eine höhere Abbruchneigung, was darauf hindeutet, dass weitere Faktoren eine Rolle in der Erklärung des Zusammenhangs spielen, die in der vorliegenden Arbeit noch nicht berücksichtigt wurden.
In der Masterarbeit konnten damit einige Ergebnisse der best3-Studie (Steinkühler et al., 2023) bestätigt werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine höhere Neigung zum Studienabbruch zeigen, die sich teilweise durch ihre geringere akademische und soziale Integration erklären lässt. Um die Abbruchquote in dieser Gruppe zu senken, sollte daher sowohl auf die Verbesserung der akademischen Integration (Leistungen und Leistungsselbsteinschätzung) als auch besonders auf die Verbesserung der sozialen Integration (Beziehungen zu Kommiliton*innen und Lehrenden) hingearbeitet werden.
Die Freie Universität Berlin bietet eine breite Palette von Unterstützungsmaßnahmen, um die soziale und akademische Integration von Studierenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu fördern. Dazu gehören neben Nachteilsausgleichen, um Chancengleichheit in Prüfungen zu gewährleisten, individuellen Beratungen zur Studienorganisation, psychologischen Unterstützungsangeboten und speziellen Mentoring-Programmen auch die kontinuierliche Arbeit an der Barrierefreiheit ihrer Infrastruktur, einschließlich digitaler Lernangebote. Zusätzlich werden Lehrende sensibilisiert, um ein inklusives Lernumfeld zu schaffen und dabei unterstützt, Lehrmaterialien so zu gestalten, dass sie für alle Studierenden zugänglich sind, unabhängig von gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Dies umfasst die Nutzung von barrierefreien PDF-Dateien, Untertiteln in Videos und die Anpassung von Webseiten, damit sie mit Screenreadern kompatibel sind. Ziel ist es, ein Lernumfeld zu schaffen, das niemanden ausschließt.
Studien, die die Wirkung institutioneller Maßnahmen, wie Nachteilsausgleiche, Beratungsangebote und Angebote zur Gesundheitsförderung auf den Studienerfolg von Studierenden mit gesundheitlichen Einschränkungen untersucht haben, zeigen allerdings gemischte Ergebnisse. Während Nachteilsausgleiche zum Teil positive Effekte zeigten, hatten Beratungsangebote überwiegend kleine bis nicht signifikante Effekte (Römhild & Hollederer, 2024). Diese Befunde zeigen, dass zwischen institutionellen Maßnahmen und deren Erfolg kein Automatismus existiert. Dies kann an der kurzen Dauer der meisten Interventionen liegen oder den kleinen Stichproben der Studien geschuldet sein. Möglicherweise entsprechen diese Angebote aber auch nicht immer den Bedürfnissen der Studierenden (Römhild & Hollederer, 2024). Es erscheint also lohnenswert, sowohl in Maßnahmen zur besseren Integration von Studierenden mit Beeinträchtigung als auch in die Evaluation dieser Maßnahmen weiter zu investieren.
Einen Beitrag zur weiteren Erforschung des Zusammenhangs von gesundheitlicher Beeinträchtigung und Studienerfolg plane ich im zweiten Teil der Masterarbeit. Hier werde ich zusätzlich den Aspekt der Sichtbarkeit von gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Studium untersuchen. Hierbei wird eine weitere zentrale Studierendenbefragung der Freien Universität Berlin genutzt, die im Jahr 2021 durchgeführt wurde und die Art der Beeinträchtigung differenziert erfasst hat. Inwiefern die Sichtbarkeit gesundheitlicher Beeinträchtigungen die akademische und soziale Integration sowie die Entscheidung für oder gegen einen Studienabbruch beeinflusst, wird sich im zweiten Teil der Masterarbeit zeigen.
Literatur
Steinkühler, J., Beuße, M., Kroher, M., Gerdes, F., Schwabe, U., Koopmann, J., Becker, K., Völk, D., Schommer, T., Erhardt, M.-C., Isleib, S., & Buchholz, S. (2023). Die Studierendenbefragung in Deutschland: best3: Studieren mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung. https://doi.org/10.15488/15773
Römhild, A., & Hollederer, A. (2024). Effects of disability-related services, accommodations, and integration on academic success of students with disabilities in higher education. A scoping review. European Journal of Special Needs Education, 39(1), 143–166. https://doi.org/10.1080/08856257.2023.2195074
Tinto, V. (1975). Dropout from Higher Education: A Theoretical Synthesis of Recent Research. Review of Educational Research, 45(1),89-125. https://doi.org/10.2307/1170024