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Die Zukunft mitgestalten - Interview mit der Schweizerischen Fachzeitung für Tourismus

Anlässlich des Jahresanfangs 2012 widmete die Schweizer Fachzeitung für Tourismus htr ihre diesjährige erste Januarausgabe verschiedenen Zukunftsthemen, u.a. mit einem Interview mit Bernd Stegmann über Möglichkeiten und Grenzen der Zukunftsforschung im allgemeinen und den Masterstudiengang im besonderen.

News vom 09.01.2012

Interview Christine Künzler

Bernd Stegmann, Zukunftsforschung ist in Europa weniger bedeutungsvoll als im angelsächsischen Raum. Weshalb?

Die Frage, wie wir morgen leben und arbeiten wollen, gewinnt mit der Einbindung von Foresight-(Vorausschau)-Aktivitäten seit nunmehr zwei Jahrzehnten eine zunehmende Bedeutung. Sowohl im europäischen Forschungsraum als auch in den nationalstaatlichen Forschungsaktivitäten. Die Etablierung der Zukunftsforschung als Wissenschaftsdisziplin an der Freien Universität Berlin ist ein Beispiel dafür.

Die Trends von morgen heute schon erkennen - welche Fähigkeiten braucht eine Zukunftsforscherin, ein Zukunftsforscher?

Wer seriöse Aussagen über die Zukunft machen will, kann das nicht aus dem Bauch heraus tun. Dazu steht dem Zukunftsforscher neben empirischer (Sozial-)Forschung eine ganze Reihe von weiteren Methoden zur Verfügung wie etwa die Szenario-Technik, die Delphi-Methode, die Cross- und Trend-Impact-Analyse oder die agentenbasierte Modellierung. Neben Methodenkenntnissen ist in der Zukunftsforschung auch wichtig, über eine umfangreiche Allgemeinbildung und - je nach Forschungsfrage - über interdisziplinäre Fachkenntnisse zu verfügen. Wer über zukünftige Entwicklungen forscht, darf sich nicht auf ein gesellschaftliches Teilsystem konzentrieren, sondern muss stets versuchen, das Ganze im Blick zu behalten.

Für welchen Zeitraum lassen sich zuverlässige Voraussagen für die Zukunft machen?

Grundsätzlich gilt: je weiter wir uns Richtung Zukunft bewegen, desto mehr nehmen die Gewissheiten ab und die Ungewissheiten zu. Daher beschäftigt sich Zukunftsforschung selten mit einem Zeithorizont, der grösser als 30 bis 50 Jahre ist. Hinzu kommt: Die moderne Zukunftsforschung betrachtet die Zukunft als offen. Deswegen spricht man nicht von einer Zukunft, sondern - im Plural - von Zukünften. Es geht weniger um das Voraussagen der Zukunft (forecast) sondern um eine Vorausschau (foresight) zur Bereitstellung von Orientierungs-, Entscheidungs- und Handlungswissen.

Die Weltlage ist unsicherer geworden, sie verändert sich schneller als früher. Wie wirkt sich das auf die Voraussagen aus?

Der beschleunigte Wandel macht den Entwurf von plausiblen Zukunftsbildern nicht einfacher, macht aber dafür umso deutlicher, dass wir fundiertes Zukunftswissen brauchen, um die Welt im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu gestalten.

Welche Einflüsse machen eine Korrektur der Voraussagen nötig?

In der Zukunftsforschung spricht man von so genannten Wildcards. Darunter versteht man schwer vorhersehbare Ereignisse mit einer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit, aber extrem hoher Auswirkung. Beispiele für Wildcards waren das durch den Tsunami ausgelöste Reaktorunglück in Fukushima oder der Mauerfall. Solche Ereignisse machen eine Korrektur der bestehenden Szenarien nötig. Auch wenn man Wildcards nur sehr bedingt vorhersehen kann, versuchen Zukunftsforscher, auch solche extrem unwahrscheinlichen Ereignisse in ihren Szenarien zu berücksichtigen. Hier wird noch eine weitere Fähigkeit deutlich, über die Zukunftsforscher verfügen müssen: Fantasie.

Lässt sich heute schon die Entwicklung der wirtschaftlichen Lage voraussehen?

Ehrlich gesagt: nein. Aber: Es gibt eine Reihe von Megatrends, wie den demographischen Wandel, die Klimaveränderung oder die Digitalisierung der Lebenswelt, die die (wirtschaftliche) Entwicklung und die Zukunft beeinflussen werden. Die Aufgabe der Zukunftsforschung ist es aber nicht nur, diese Faktoren zu kennen, sondern die Daten plausibel und ganzheitlich zu interpretieren und die Ergebnisse an die Gesellschaft zurück zu spiegeln. Denn: Es gibt nicht nur eine Zukunft, auf die wir zusteuern. Die Zukunft ist offen und damit auch gestaltbar und gestaltungsbedürftig. Aufgabe der Zukunftsforschung ist somit nicht nur die Analyse von Megatrends und die Entwicklung von Szenarien. Zukunftsforschung will gleichsam die Diskussionen über wünschbare Zukünfte initiieren und zur gemeinsamen Gestaltung einer nachhaltigen, gerechten Welt(gesellschaft) beitragen.

Wie sehen Sie persönlich Europa in 30 Jahren?

Der Blick zurück zeigt, dass ein grosser Spielraum für Veränderungen besteht. Heute vor 30 Jahren war Europa in den Ost- und Westblock getrennt, europaweites Reisen und Handeln waren äusserst beschränkt, das Internet und Mobiltechnologien, wie wir sie heute kennen, existierten noch nicht, die Luftverschmutzung war grösser, die Flüsse schmutziger und Europas Stimme und Gewicht in der Welt kleiner. Europa wird auch nach 2040 für die Mehrheit der Bevölkerungen ein lebenswerter Ort und global ein Ideenlieferant sein können, wenn es uns - und damit sind politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheidungsträger wie jeder einzelne Bürger gemeint - gemeinsam gelingt, unsere Blicke und unterschiedlichen Formen von Gestaltungskompetenz auf zukunfts- und auch über Europa hinaus tragfähige Lösungen zu fokussieren. Erste Voraussetzung dafür sind die richtigen und nötigen Investitionen in eine Bildung, die diese Kompetenzen fördert, möglichst alle einbezieht und zugleich die Mittel bereitstellt, die erörterten komplexen Fragen problem- und prozessorientiert, interdisziplinär und vernetzt zu lösen.

Das Interview entstand auf schriftlichem Weg.

Weitere Informationen

  • Zum Interview in der Schweizerischen Fachzeitung für Journalismus auf htr.ch und der Gesamtausgabe vom 5.01.2012 
  • Zum Interview als ePaper (PDF)
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