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Modellprojekt "Peer education zu Liebe, Sexualität und Schwangerschaftsverhütung"

  • Mittelgeber: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzGA), (Förderkennzeichen: 2.1.1./94)
  • Laufzeit: 1.7.1994 - 30.12.1997 (mit Verlängerung)
  • Fördersumme: 554.347 DM (bis 30. Juni 1997 - ohne Verlängerung)
  • Projektleitung: Prof. Dr. Dieter Kleiber
  • MitarbeiterInnen des Peer Projektes: Elke Appel

Problemstellung und Zielsetzung

Als eine zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters wird das Eingehen von intimen interpersonalen Beziehungen gesehen. Neben den überwiegend positiven Effekten für die individuelle Entwicklung birgt das Sammeln von sexuellen Erfahrungen immer auch ein gewisses Entwicklungsrisiko, da Jugendliche lernen müssen, mit sexuellen und intimen Problemen produktiv umzugehen. Sexuelle Erfahrungen können auch insbesondere mit Risiken, wie ungewollten Schwangerschaften und übertragbaren Infektionen verbunden sein. Wie in umfassenden Evaluationsstudien gezeigt werden konnte, sind schulische Präventionsansätze, die ausschließlich auf Wissensvermittlung abzielen, wenig geeignet, bei Jugendlichen Einstellungs- und Verhaltensänderungen hervorzurufen. Erfolgversprechender erscheinen demgegenüber Gesundheitsförderungsansätze, die Jugendliche stärker mit einbeziehen und sie nicht nur auf der kognitiven Ebene, sondern auch auf der affektiven und Handlungsebene ansprechen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht spielen Gleichaltrigenbeziehungen für die Bewältigung alterstypischer Entwicklungsaufgaben und die Identitätsfindung von Jugendlichen eine wichtige Rolle. Allgemein bezeichnet man Gesundheitsförderungsansätze, die Laienmultiplikatoren einsetzen, die ihrer eigenen Zielgruppe angehören als peer involvement - Ansätze. Solche Ansätze sind im deutschsprachigen Raum jedoch noch eher selten. Ein pädagogisches Team der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit betreute ein peer involvement Modellprogramm zur Sexualaufklärung. Realisiert wurden zwei Varianten von peer involvement Ansätzen: Peer education - Programme (Teilprojekt I-Intensivtraining) und Peer Projekte (Teilprojekt II- Kurztraining). In Teilprojekt I wurde eine Gruppe von Jugendlichen über einen längeren Zeitraum zu Themen wie Liebe, Sexualität und Schwangerschaftsverhütung geschult. Die Jugendlichen wurden im schulischen Umfeld rekrutiert und wurden nach Trainingsabschluß (ca. nach einem dreiviertel Jahr) im Rahmen von Schulklassen aktiv. Teilprojekt II beinhaltete demgegenüber eine ca. 16-stündige Kurzausbildung. Das Ziel bestand hier weniger in der Durchführung von Veranstaltungen mit Gruppen von Jugendlichen, als vielmehr in der Durchführung von sogenannten Peer Projekten, wie z. B. im Erstellen von Wandzeitungen, Aufführen von Theaterstücken usw... Teilprojekt II sollte im Gegensatz zu Teilprojekt I im Freizeitbereich zur Anwendung kommen und sich stärker auf Jugendliche mit schwierigen Lebensläufen konzentrieren. Das übergreifende Ziel beider Trainingsvarianten bestand darin, die Autonomie und Selbstverantwortlichkeit von Jugendlichen zu stärken und sie zu einem selbstverantwortlichen und risikobewußten Umgang mit Verhütungsmitteln anzuregen.

Wissenschaftliche Begleitforschung

  • Die wissenschaftliche Begleitforschung des peer education Projektes beinhaltet im Sinne umfassender Evaluation die Evaluation von Programmentwicklung (Trainingsvarianten), Programmdurchführung (Implementation) und Programmwirkungen. Zu diesem Zweck fanden Befragungen, bzw. Interviews der Trainer, der Multiplikatoren (peer educators) und der Adressaten statt.
  • Allgemeines Ziel der wissenschaftlichen Begleitung von Trainerinnen und Trainern war es, die Modellimplementation mit ihren Schwierigkeiten und Problemen zu veranschaulichen und gegebenenfalls unterstützend einzugreifen. Zu diesem Zweck wurden in ca. dreivierteljährlichen Abständen halbstrukturierte Interviews durchgeführt und fortlaufend ausgewertet.
  • Auf der Ebene der Programmentwicklung wurden die beiden o.g. Trainingsvarianten realisiert und evaluiert. Dabei befand sich Teilprojekt II (Kurztraining) noch stärker als Teilprojekt I (Intensivtraining) im Stadium der Programmentwicklung, da Konzepte für Zielgruppen zu entwickeln waren, die besondere Anforderungen stellten. Die Trainingskonzepte wurden darüber hinaus von Fall zu Fall auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft und gegebenenfalls adaptiert. Angestrebt war ein Vergleich von Effektivität und Effizienz der beiden Trainingsvarianten.
  • Die Beobachtung der Beeinflussung von Entwicklungsverläufen der Peer educators durch ihre Ausbildung stellte ein wesentliches Ziel der Evaluationsforschung dar. Von Interesse waren Erkenntnisse darüber, ob und in welcher Weise gewünschte Entwicklungsverläufe durch peer education Programme gefördert werden konnten. Hier ging es um den Einfluß der Ausbildung und Tätigkeit als peer educator auf die Förderung von personalen Ressourcen und Verhaltenskompetenzen. Hierzu wurde ein standardisierter Fragebogen direkt vor, direkt nach und ein halbes Jahr nach Abschluß des Trainings eingesetzt.
  • Zur Erfassung der Adressatenwirkung (Teilprojekt I) wurde eine längsschnittlich angelegte Befragung mit Interventions- und Kontrollgruppe in Schulen durchgeführt. Als Zielkriterien wurden unter anderem gesundheitspsychologische Einflußgrößen erhoben. Abhängig von der potentiellen Zielgruppe der peer educators wurden ein bis drei Jahrgänge der achten bis zehnten Klassen vor Beginn der peer educator Aktivitäten und vier bis sechs Monate später mittels standardisierter Meßinstrumente befragt.

Die wichtigsten Untersuchungsbefunde im Überblick

1. Programmwirkungen bei Multiplikatoren mit Intensivtraining (Teilprojekt I)

  • Stichprobe zu Trainingsbeginn: 68 Jugendliche (42 Mädchen, 26 Jungen) mit einem Durchschnittalter von 14,7 Jahren (12-17 Jahre), 24 % der Multiplikatoren waren sexuell erfahren.
  • Trainingsgruppen: 5 Trainingsgruppen - je zwei gymnasiale und zwei Gesamtschulgruppen aus Westberlin, eine gemischte Gruppe aus Ostberlin bestehend aus Haupt- und Gesamtschülern.
  • 60 % Trainings Drop-outs: abhängig von Schultyp (Je höher das Bildungsniveau, desto geringer die Dropouts), Geschlecht (Jungen steigen häufiger aus), Wissen (Dropouts verfügen über geringeres themenbezogenes Wissen) und Kondomakzeptanz (geringere Kondomakzeptanz bei Dropouts).
  • Motive zur Trainingsteilnahme: Am wichtigsten war der Wunsch, Neues zu erfahren ("Informationssuche"), gefolgt von der Verantwortungsübernahme für andere ("Altruismus") und schließlich dem Wunsch nach sozialer Anerkennung ("Suche nach Anerkennung").
  • Intensivtraining führte zu einer Zunahme an Wissen, wahrgenommener Kommunikationskompetenzen, Selbstwertgefühl und des Selbstvertrauens im sexuellen Bereich.
  • Die Anforderungen der Durchführungsphase von Peeraktivitäten führten zu einer Stabilisierung der Effekte auf dem bestehenden Niveau.

2. Programmwirkungen bei Multiplikatoren mit Kurztraining (Teilprojekt II)

  • Stichprobe zu Trainingsbeginn: 50 Jugendliche (33 Jungen, 17 Mädchen) mit einem Durchschnittsalter von 14,9 Jahren (12-19 Jahre). Multiplikatoren verfügten mit knapp 40% Geschlechtsverkehrerfahrung über vergleichsweise hohe sexuelle Erfahrung.
  • Trainingsgruppen: 6 Trainingsgruppen - 4 Gruppen aus dem Freizeitbereich und zwei schulische Gruppen aus Gymnasium und Gesamtschule.
  • 54 % Trainings Drop-outs - geringste Dropoutquoten hatten eine sozialpädagogisch betreute Freizeitgruppe und eine gymnasiale Gruppe.
  • Unterschied in Informationsbedürfnissen: Informationsbedürfnisse zum Thema Liebe, Sexualität und Partnerschaft waren bei Teilnehmern des Kurztrainings im Vergleich zu Teilnehmern des Intensivtrainings geringer ausgeprägt.
  • Unterschied in Teilnahmemotiven: Teilnehmer des Kurztrainings hatten im Vergleich zu Teilnehmern des Intensivtrainings eine stärkeres "Informationssuchemotiv" und "Hilfemotiv", jedoch ein geringer ausgeprägtes Motiv durch ihre Trainingsteilnahme soziale Anerkennung zu erfahren.
  • Kurztraining führte zu einer Zunahme wahrgenommener Kommunikationskompetenzen, jedoch nicht zu einer Zunahme des Wissens oder des Selbstvertrauens.
  • Die Anforderungen der Durchführung von Peeraktivitäten bewirkten einen Anstieg des Wissens, wahrgenommene Kommunikationskompetenzen konnten nicht langfristig stabilisiert werden und sanken auf das Ausgangsniveau zurück.

3. Akzeptanz der Peer educators bei Adressaten

  • Programmreichweite: Es wurden schätzungsweise 2000 Adressaten durch das Programm unmittelbar erreicht, etwa ein Drittel davon als Zuschauer eines Theaterstücks der Multiplikatoren zum Thema "Bisexualität", die restlichen hatten die Gelegenheit, an Informationsveranstaltungen innerhalb der Klasse teilzunehmen
  • Adressatenstichprobe: im Durchschnitt 14,7 Jahre, 57 % Mädchen
  • Globalbewertung: die Veranstaltungen und Präsentationsfähigkeiten der Multiplikatoren wurden von dem überwiegenden Teil der Adressaten als gut oder sehr gut bewertet
  • Schularteffekte: ein Vergleich der Einschätzungen von Adressaten aus verschiedenen Schularten ergab beste Bewertungen für die Gesamtschülerinnen - offensichtlich war hier die beste Passung zwischen Beobachter und Modell vorhanden
  • Geschlechtseffekte: Mädchen bewerteten die Veranstaltungen und die Multiplikatoren in einigen Aspekten besser und waren generell den Präventionszielen Kommunikation und Kondomgebrauch gegenüber positiver eingestellt
  • Die Einschätzung der Peer educators durch Adressaten stand in einem Zusammenhang zur Akzeptanz der Veranstaltung und zu den Präventionszielen Kommunikationsbereitschaft und Einstellungen zum Kondomgebrauch
  • Je höher die Fähigkeit der Peer educators eingeschätzt wurde, offen über Sexualität reden zu können, desto mehr trauten sich die Adressaten zu, über Sexualität und Verhütung zu reden.
  • Je attraktiver Peer educators wahrgenommen wurden, desto motivierter waren Adressaten, mit anderen Jugendlichen über Sexualität und Verhütung zu reden

4. Programmwirkungen bei Adressaten

  • Stichprobe: 1411 Schülerinnen und Schüler aus dem 8ten bis 10ten Jahrgang, im Durchschnitt 14,3 Jahre (12-17 Jahre) davon 55,2 % Mädchen
  • Präventionsbedarf: 86 % der Mädchen und 71 % der Jungen gaben an, beim letzten Geschlechtsverkehr verhütet zu haben. Pille und Kondom waren die hauptsächlichen Verhütungsmittel: Mädchen hatten überwiegend mit Pille verhütet (63 %), Jungen hatten überwiegend mit Kondom verhütet (77 %).
  • Programmziel Kommunikationsförderung: wurde bei Gymnasiasten deutlich, bei Gesamtschülern und Hauptschülern in Ansätzen erreicht.
  • Programmziel Kondomgebrauch fördern: wurde bei Gymnasiasten und Hauptschülern eher nicht (nur ein Indikator sprach dafür), bei Gesamtschülern in Ansätzen erreicht (drei Indikatoren sprachen dafür)
  • Programmziel Beratungsstellen bekanntmachen: Bekanntheitsgrad von Beratungsstellen (insbesondere Pro Familia) war bei Gesamtschülern und Gymnasiasten gestiegen, bei Hauptschülern jedoch nicht
  • Geschlechtsunterschiede der Programmwirkungen bei Adressaten waren nicht nachweisbar
  • Durch die Veranstaltungsform Theaterstück konnte schneller eine größere Anzahl Jugendlicher erreicht werden, nachhaltige Wirkungen wurden nur durch zusätzliche Informationsveranstaltungen der Peer educators in Schulklassen erreicht.

Bisherige Veröffentlichungen:

im Jahre 1995:

  • Kleiber, D. & Pforr, P. (unter Mitarbeit von Lerf, J. und Knietzsch, T.) (1995). Begleitforschung zum Modellprojekt "Peer education zu Liebe, Sexualität und Schwangerschaftsverhütung" - Erster Zwischenbericht. (Schriftenreihe des Instituts für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung: 1/P95). Freie Universität Berlin.

im Jahre 1996:

  • Kleiber, D. & Appel, E. (unter Mitarbeit von Lerf, J. und Knietzsch, T.) (1996). Begleitforschung zum Modellprojekt "Peer education zu Liebe, Sexualität und Schwangerschaftsverhütung" - Zweiter Zwischenbericht. Institut für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung. Freie Universität Berlin.
  • Lerf, J. (1996). Die Aufnahme intimer Beziehungen im Kontext psychosozialer Bedingungen. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Institut für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung. Freie Universität Berlin.
  • Pforr, P. & Kleiber, K. (1996). Prävention und Gesundheitsförderung von Jugendlichen für Jugendliche - Theoretische Grundlagen und Praxismodelle des peer involvement-Ansatzes. Institut für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung. Freie Universität Berlin.
  • Schleicher, M. (1996). Prädiktoren der Motivation zur Teilnahme an einem Trainings-programm zur Sexualaufklärung. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Institut für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung. Freie Universität Berlin.

im Jahre 1997:

  • Kleiber, D. & Appel, E. (unter Mitarbeit von Knietzsch, T. und Socher, A.) (1997). Begleitforschung zum Modellprojekt "Peer education zu Liebe, Sexualität und Schwangerschaftsverhütung" - Dritter Zwischenbericht. (Schriftenreihe des Instituts für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung: 4/P97). Freie Universität Berlin.

im Jahre 1998:

  • Appel, E. & Kleiber, D. (1998). Evaluation of a peer education program on love, sexuality and contraception. In: R. Schwarzer (Ed.) Advances in health psychology research (Volume 1). Berlin: Freie Universität. (ISBN 3-00-002776-9).
  • Appel, E. & Kleiber, D. (1998). "... daß ich was lern dabei und auch noch an andere Jugendliche weitergeben kann! " Auswirkungen des Berliner Peer Projektes auf Jugendliche. In R. Gerdes, I. Nuj-Brandt, L. Wronska & H. Backes (Hrsg.) Viele Wege führen nach Rom. Dokumentation der Fachtagung Peer Education Berlin (22.10. - 24. 10.1998). Schriftenreihe Gesundheitsförderung Nr. 12 (S. 26-35). Berlin: Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin.
  • Kleiber, D. & Appel, E. (1998). Peer education zu Liebe, Sexualität und Schwangerschaftsverhütung. Abschlußbericht (Schriftenreihe des Instituts für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung 9/P98). Berlin: Freie Universität Berlin.
  • Kleiber, D., Appel, E. & Pforr, P. (1998). Peer education in der Präventionsarbeit. Entwicklungen, Begründungsmuster, Erfahrungen und Entwicklungsanforderungen (preprint). (Schriftenreihe des Instituts für Prävention und psychosoziale Gesundheitsforschung 10/P98). Berlin: Freie Universität Berlin.

 

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