Aus dem Bereich Evaluation: Problembasiertes Lernen in der Hochschule - wenn Lehrende kooperatives Arbeiten von Studierenden zu stark kontrollieren
Irmela Blüthmann und Anabel Bach
27.11.2025
Problembasiertes Lernen (PBL) erfolgt weitgehend selbstgesteuert in Kleingruppen, in Begleitung von Lehrenden, die den kooperativen Lernprozess überwachen und nur bei Bedarf unterstützen. Diese Rolle der Lehrenden unterscheidet sich grundsätzlich von der oftmals gewohnten Rolle in instruktionsbasierten Lehrformaten. Trotz didaktischer Vorbereitungskurse kommt es vor, dass Lehrende mit dieser Rolle der Tutor*innen überfordert sind und dazu neigen, Gruppenlernprozesse zu stark zu kontrollieren. Der Frage, welche Folgen dies für das Lernen haben kann, sind wir in einem Kooperationsprojekt der Arbeitsstelle Lehr- und Studienqualität und des Arbeitsbereichs Schulpädagogik/Schulentwicklungsforschung der Freien Universität Berlin mit Expert*innen für problembasiertes Lernen der Charité Berlin nachgegangen.
An der Charité wird problembasiertes Lernen (PBL) im Medizinstudium regelhaft eingesetzt. Dabei werden authentische, komplexe medizinische Problemsituationen aus dem Berufsalltag als Fallbeispiele genutzt, die den Ausgangspunkt für Lernprozesse bilden. Studierende erarbeiten neues Wissen und entwickeln neben Fachwissen auch Problemlösestrategien und kooperative Kompetenzen, die für ihren Beruf wichtig sind. Die Problemlösung erfolgt kooperativ in Kleingruppen von 6-10 Studierenden weitgehend selbstgesteuert unter der Begleitung einer Lehrperson. Diese überwacht, strukturiert und unterstützt bei Bedarf, d.h. wenn eine Gruppe alleine nicht weiterkommt (Barrows, 1988).
Um die Rolle der Lehrperson bei PBL zu verstehen, hilft ein Blick auf die zugrundeliegenden Annahmen über den Lernprozess: Wissen wird aufgebaut und erweitert, indem neue Informationen in bereits vorhandene kognitive Strukturen integriert werden. Untersuchungen zeigen, dass bei PBL die gemeinsame Elaboration eine entscheidende Rolle für die Wissenskonstruktion in der Gruppe spielt (Baucal et al., 2023). Elaboration in der Lerngruppe findet statt, wenn Gruppenmitglieder sich z.B. gegenseitig mit Erklärungen helfen, Dinge zu verstehen, die Gedanken der anderen weiterdenken, strukturieren oder dazu nutzen, eigene Gedanken klarer darzustellen. Eine wichtige Aufgabe der Lehrenden bezieht sich somit auf die Anregung der Elaboration, indem sie die Gruppenmitglieder ermutigen, ihre Gedanken und Ideen zu dem Fallbeispiel zu äußern, zu begründen und immer wieder zu hinterfragen, ob sie auf dem richtigen Weg sind. Lehrende unterstützen die Gruppen aber auch in ihrer sozialen Interaktion, indem sie z.B. darauf achten, dass sich alle Gruppenmitglieder an der Diskussion beteiligen und die Diskussion themenbezogen bleibt (van de Pol et al., 2010; Webb et al., 2002).
Dabei ist es wichtig, dass die Unterstützung stets adaptiv erfolgt, d.h. so auf den jeweiligen Gruppenfortschritt zugeschnitten ist, dass für die Lernenden ein optimales Herausforderungsniveau entsteht (Wood et al., 1978). Mit Unterstützung sind bei PBL oft sehr minimale Denkanstöße (sog. hints und prompts) gemeint. Nicht adaptiv ist auf der einen Seite eine zu geringe Unterstützung von Gruppen, die alleine nicht gut vorankommen, auf der anderen Seite aber auch eine zu starke Unterstützung von Gruppen, die alleine eigentlich gut vorankommen. Ein „Zuviel“ an Einmischung durch die Lehrkraft wird als zu stark regulierendes oder kontrollierendes Lehrverhalten bezeichnet. Ein solches Lehrverhalten, das den selbstständigen Fortschritt der Lernenden missachtet, sie beispielsweise durch eigene Ausführungen in ihren Gedankengängen unterbricht und die Lösung, auf die sie möglicherweise auch selbst gekommen wären, vorwegnimmt, kann sich negativ auf das Lernen und die Motivation der Lernenden auswirken (Corno, 2008; De Meyer et al., 2014; van Leeuwen & Janssen, 2019). Auch ist zu erwarten, dass Strategien selbstregulierten Lernens, Problemlösestrategien und kooperative Kompetenzen in geringerem Maße ausgebildet werden, wenn Lehrende den Prozess selbst zu stark strukturieren und kontrollieren.
Bisherige Forschung zu den Auswirkungen von zu stark kontrollierendem Lehrverhalten erfolgte vor allem mit Hilfe von Ton- oder Videoaufzeichnungen von Unterrichtsstunden im Schulkontext bei der Unterstützung individueller Lernprozesse. Für kooperative Lernprozesse, im Hochschulkontext und mit Hilfe von Fragebögen sind die Effekte eines solchen Lehrverhaltens hingegen bisher kaum untersucht. Dies ist auch den Herausforderungen bei der fragebogenbasierten Erfassung von adaptivem bzw. nicht-adaptivem Unterstützungsverhalten geschuldet.
Gemeinsam mit Kolleg*innen der Charité haben wir einen Fragebogen entwickelt und validiert (Bach et al., 2023), der die teils sehr subtilen Unterstützungsleistungen durch die Tutor*innen und auch zu stark kontrollierendes Lehrverhalten auf vierstufigen Antwortskalen (1=trifft gar nicht zu bis 4=trifft vollkommen zu) zuverlässig erfasst. Zu stark kontrollierendes Lehrverhalten wurde mit drei Items erfasst (Beispielitem: Der/die Lehrende hat unseren Gruppenarbeitsprozess durch zu häufiges Eingreifen beeinträchtigt.). Zusätzlich wurden folgende Lernergebnisse erfasst, jeweils bezogen auf die evaluierten Module: Fachkompetenzzuwachs, Zuwachs an kooperativen Kompetenzen und Problemlösekompetenz sowie gesteigertes Interesse an PBL (vgl. Abbildung 1). Die Lernergebnisse wurden ebenfalls auf vierstufigen Antwortskalen (1=trifft gar nicht zu bis 4=trifft vollkommen zu) erfasst.

Abbildung 1: Erfassung der Lernergebnisse
Mit diesem Fragebogen wurden im Wintersemester 2021/22 alle Studierenden der Charité Berlin, die PBL-Module besucht hatten (1. bis 5. Fachsemester) zu ihren Erfahrungen mit PBL befragt. PBL fand in diesem Semester aufgrund der Covid-19 Pandemie zum Teil online, zum Teil wieder in Präsenz statt. Der Rücklauf betrug 20 % (N=229). Die Befragten hatten durchschnittlich 2.6 (SD=1.5) Fachsemester studiert und gehörten 133 PBL-Gruppen an. Pro Gruppe haben sich durchschnittlich 1.7 (SD= 0.9) Studierende beteiligt.
Zu stark kontrollierendes Lehrverhalten war in der Stichprobe insgesamt eher gering ausgeprägt (M=1.6, SD=0.7). Die Lernergebnisse waren durchschnittlich bis leicht überdurchschnittlich ausgeprägt. Der Fachkompetenzzuwachs (M=3.0; SD=0.7) wurde im Mittel etwas höher eingeschätzt als der Zuwachs an kooperativen Kompetenzen (M=2.7; SD=0.7) und Problemlösekompetenz (M=2.6; SD=0.8). Die Steigerung des Interesses an PBL fiel (M=2.5; SD=0.9) vergleichsweise etwas geringer aus. In den PBL-Gruppen waren die Einschätzungen ausreichend ähnlich, um von einer geteilten Wahrnehmung eines zu stark kontrollierenden Lehrverhaltens und der Lernergebnisse sprechen zu können (.16<ICC(1)=.29), was eine Voraussetzung ist für die im Folgenden dargestellten Analysen auf Ebene der Gruppen.
Mit Hilfe von Mehrebenenanalysen haben wir untersucht, welche Effekte ein zu stark kontrollierendes Lehrverhalten auf die Lernergebnisse (Outcomes) der Gruppen hat (vgl. Abbildung 2). Dabei haben wir statistisch für das Fachsemester kontrolliert, da dieses ebenfalls einen Effekt auf die Lernergebnisse haben kann.
Die Studie zeigt, dass kontrollierendes Lehrverhalten einen signifikanten negativen Effekt auf den Kompetenzzuwachs in Bezug auf kooperative Kompetenzen sowie auf das Interesse an PBL hat. Dies bedeutet, dass Gruppen, in denen Lehrende den Lernprozess zu stark kontrolliert hatten, einen geringeren Zuwachs an kooperativen Kompetenzen und ein geringeres Interesse an PBL angaben.

Abbildung 2: Untersuchungsmodell
Zusammenfassend zeigt sich übereinstimmend mit bisheriger Forschung (De Meyer et al., 2014: Dolmans et al., 2006) eine eher geringe Prävalenz von zu stark kontrollierendem Lehrverhalten. Die Ergebnisse zeigen aber – und das ist für PBL im Hochschulkontext bisher kaum untersucht worden – dass ein solches Verhalten deutliche negative Effekte für die Lernenden hat, sowohl in motivationaler Hinsicht (das Interesse an PBL) als auch in Bezug auf kooperative Kompetenzen. Unterstützungsverhalten, das den eigenständigen Fortschritt in den Lerngruppen zu wenig beachtet, wirkt sich damit negativ auf zentrale mit PBL verbundene Lernziele aus.
Durch einen Einsatz dieses Fragebogens bei der Evaluation von PBL können Lehrende ein wertvolles Feedback zu ihrem Lehrverhalten und den Lernergebnissen der von ihnen betreuten Lerngruppen erhalten. Die Ergebnisse solcher Evaluationen können darüber hinaus auch für Teacher Trainings genutzt werden, die Lehrkräfte auf ihre Rolle bei problembasiertem Lernen vorbereiten, sowohl indem sie das Bewusstsein für die Auswirkungen einer zu starken Kontrolle von Lernprozessen erhöhen als auch mit dem Ziel, die für eine adaptive Unterstützung von Lerngruppen erforderlichen Kompetenzen (Lehrkompetenz und diagnostische Kompetenz) zu stärken.
Literatur
Bach, A., Blüthmann, I., Wulff, I., Thierfelder, I., Krebber, M., Watermann, R., Thiel, F. & Peters, H. (2023). Development and validation of a questionnaire on problem-based learning to evaluate facilitation by the tutor and the student group. Medical Teacher.
https://doi.org/10.1080/0142159X.2023.2271156
Barrows, H. S. (1988). The Tutorial Process. Springfield: Southern Illinois University School of Medicine.
Baucal, A., Jošić, S., Ilić, I. S., Videnović, M., Ivanović, J., & Krstić, K. (2023). What makes peer collaborative problem solving productive or unproductive: A qualitative systematic review. Educational Research Review, 41, 100567.
Corno, L., & Snow, R.E. (1986). Adapting teaching to individual differences among learners. In M. C. Wittrock (Eds.), Handbook of research on teaching (pp. 605–629). Mac-Millan.
De Meyer, J., Tallir, I. B., Soenens, B., Vansteenkiste, M., Aelterman, N., Van den Berghe, L., Speleers, L., & Haerens, L. (2014). Does observed controlling teaching behavior relate to students’ motivation in physical education? Journal of Educational Psychology, 106(2), 541-554.
Dolmans, D. H. J. M., Janssen-Noordman, A., & Wolfhagen, H. (2006). Can students differentiate between PBL tutors with different tutoring deficiencies? Medical Teacher, 28(6).
Van de Pol, J., Volman, M., & Beishuizen, J. (2010). Scaffolding in Teacher-Student Interaction: A Decade of Research. Educational Psychological Review 22, 271-296.
Van Leeuwen, A., & Janssen, J. (2019). A systematic review of teacher guidance during collaborative learning in primary and secondary education. Educational Research Review, 27, 71-89.
Webb, N. M., Farivar, S. H., & Mastergeorge, A. M. (2002). Productive helping in cooperative groups. Theory into Practice, 41, 13–20
Wood, D., Wood, H, & Middelton, D. (1978). An experimental evaluation of four face-to-face teaching strategies. International Journal of Behavioral Development 1, 131-147