Aus dem Bereich Evaluation: Das Zugehörigkeitsgefühl von Erstakademiker*innen – auch eine Frage der sozialen Zusammensetzung des Studiengangs?
Eda Erdogan, Susanne Bergann und Rainer Watermann
27.11.2025
Nara und Ayla sind beide Erstakademiker*innen - die Ersten in ihren Familien, die ein Studium aufnehmen. Dennoch erleben beide das Studium völlig unterschiedlich. Ayla findet rasch neue Kontakte, Nara hingegen kämpft immer wieder mit dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Studienergebnisse legen nahe, dass diese Unterschiede im Zugehörigkeitserleben mit der sozialen Zusammensetzung im Studiengang in Zusammenhang stehen könnten. Auf Basis von Befragungen unter Bachelorstudierenden untersucht der Beitrag deshalb, ob und wie der Anteil an Erstakademiker*innen in einem Studiengang das Zugehörigkeitsgefühl von Studierenden prägt.
Nara studiert Psychologie. An Gespräche mit Kommiliton*innen über die Studienzeit der Eltern kann sie kaum anknüpfen. Nara hört zu, lächelt, sagt wenig. Geschichten aus alten Hörsälen gehören für sie nicht zu dem, womit sie aufgewachsen ist. Ihr Vater arbeitet als Kranführer, ihre Mutter war früher am Fließband tätig. Manchmal fragt sie sich, ob sie wirklich hierher gehört an die Universität, in diese Gespräche, in diese Welt.
Ihre Freundin Ayla studiert Lehramt. Auch sie ist die Erste in ihrer Familie, die studiert und doch findet sie schnell Anschluss und scheint sich wohlzufühlen. Nara versteht nicht, warum es bei ihr anders ist. Doch Nara weiß nicht, dass Aylas Gespräche mit ihren Kommiliton*innen nicht von alten Universitätsgeschichten der Eltern handeln, sondern darum, die Erste in der Familie zu sein, die diesen Weg geht.
Wie Nara geht es auch anderen Erstakademiker*innen in Deutschland (Janke et al., 2024; Stebleton et al., 2014), ihnen fehlt oft die Vertrautheit mit der akademischen Welt, die Akademiker*innenkinder von klein auf kennen. Als Erstakademiker*innen gelten jene Studierende, deren beide Elternteile keinen Hochschulabschluss haben. Im Gegensatz dazu gelten Studierende als Akademiker*innenkinder, wenn mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss erworben hat (Janke et al., 2024). Es gibt auch Erstakademiker*innen wie Ayla, die sich der Universität trotz ähnlicher Voraussetzungen verbunden fühlen. Dass sich Erstakademiker*innen im Studium unterschiedlich stark zugehörig fühlen, kann verschiedene Gründe haben. Eine mögliche Erklärung könnte in der sozialen Zusammensetzung des Studiengangs liegen, also im Anteil an Erstakademiker*innen im Studiengang. Dieser Frage wurde im Rahmen meines Lehrforschungsprojekts unter der Betreuung von Univ.-Prof. Dr. Rainer Watermann und Dr. Susanne Bergann anhand von Daten der Bachelorbefragungen der Freien Universität Berlin nachgegangen.
Ein eingeschränktes Zugehörigkeitsgefühl zur Universität wird von Jury und Kolleg*innen (2017) als challenged Sense of Belonging bezeichnet. Betroffene Studierende können ein Gefühl von Fremdsein verspüren und Schwierigkeiten haben, ihre neue Identität als Student*in anzunehmen (ebd). Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass ein niedriges Zugehörigkeitsgefühl sowohl die Studienabbruchneigung (Janke et al., 2024; Kolann et al., 2018) als auch psychische Belastungen, wie depressive Symptome und Stress, erhöhen kann (Georgiades et al., 2013; Janke et al., 2024; Stebleton et al., 2014; Suhlmann et al., 2018).
Forschungsergebnisse legen nahe, dass Schüler*innen und Studierende aus unterrepräsentierten Gruppen – wie Schüler*innen mit Migrationshintergrund sowie Erstakademiker*innen – ein niedrigeres Zugehörigkeitsgefühl im schulischen und universitären Kontext empfinden (Burfeind et al., 2021; Janke et al., 2024; Museus & Chang, 2021; Stebleton et al., 2014). Das geringere Zugehörigkeitsgefühl von Erstakademiker*innen könnte mit der Habitustheorie von Bourdieu (1987) erklärt werden, nach der Erstakademiker*innen mit anderen Gewohnheiten und Erfahrungen an die Hochschule kommen als Akademiker*innenkinder. So kann die Universität für Erstakademiker*innen ein ungewohntes Umfeld darstellen, in dem ihnen weniger vertraute Verhaltensweisen und Werte begegnen.
Allerdings legen Studien aus dem Schulkontext nahe, dass das geringere Zugehörigkeitsgefühl von Schüler*innen aus unterrepräsentierten Gruppen durch einen höheren Anteil von Mitschüler*innen mit ähnlichem Hintergrund abgemildert werden kann. So zeigt sich, dass das Zugehörigkeitsgefühl von Schüler*innen mit einem Migrationshintergrund steigt, wenn der Anteil von Mitschüler*innen mit Migrationshintergrund in der Klasse höher ist (Hornstra et al., 2015; Mok et al., 2016). Gleichermaßen könnte auch an Hochschulen ein höherer Anteil an Studierenden aus unterrepräsentierten Gruppen im Studiengang dazu führen, dass diese mehr Ähnlichkeit zu den anderen Studierenden mit vergleichbarem Hintergrund wahrnehmen. Dies kann sich positiv auf die wahrgenommene subjektive Übereinstimmung zwischen den Merkmalen der Studierenden und den Werten der Universität auswirken, was wiederum ihr Zugehörigkeitsgefühl stärken kann (Suhlmann et al., 2018).
Obwohl das Zugehörigkeitsgefühl (Sense of Belonging) in der internationalen Bildungsforschung als anerkanntes und empirisch gut gestütztes Konstrukt gilt, gibt es insbesondere in Deutschland wenige Untersuchungen zum Zugehörigkeitsgefühl (Burfeind et al., 2021), vor allem von Erstakademiker*innen. Zudem existieren bislang kaum Arbeiten, die den Effekt des Anteils an Erstakademiker*innen im Studiengang auf das Zugehörigkeitsgefühl von Studierenden untersucht haben. Die vorliegende Arbeit geht dieser Forschungslücke nach und untersucht mithilfe von Mehrebenenregressionen, wie sich Erstakademiker*innen und Akademiker*innenkinder in ihrem Zugehörigkeitsgefühl unterscheiden und inwieweit sich das Zugehörigkeitsgefühl von Erstakademiker*innen und Akademiker*innenkindern in Abhängigkeit vom Anteil von Erstakademiker*innen im Studiengang ändert. Die Analysen basieren auf Daten der Bachelorbefragungen der Freien Universität Berlin aus den Jahren 2015, 2019 und 2024. Der Datensatz umfasst 9360 Studierende aus 178 Bachelorstudiengängen, wovon knapp 30 % Erstakademiker*innen sind.

Abbildung 1: Verteilung des Anteils von Erstakademiker*innen in Studiengängen
Die Verteilung des Anteils von Erstakademiker*innen in den Studiengängen (Abbildung 1) verdeutlicht, dass in der Mehrheit der Studiengänge der Anteil von Erstakademiker*innen in der befragten Stichprobe zwischen 0 % und 50 % liegt und nur in wenigen Studiengängen mehr als 50 % beträgt. Der durchschnittliche Anteil an Erstakademiker*innen im Studiengang liegt bei 29 %.
Abbildung 2 zeigt das Zugehörigkeitsgefühl von Erstakademiker*innen und Akademiker*innenkindern in Abhängigkeit vom Anteil an Erstakademiker*innen im Studiengang. Auf der x-Achse ist der Anteil von Erstakademiker*innen im Studiengang dargestellt. Die y-Achse zeigt das vorhergesagte Zugehörigkeitsgefühl der Studierenden. Das Zugehörigkeitsgefühl wurde mithilfe des Items „Ich habe im Studium das Gefühl dazuzugehören.“ erfasst, das auf einer achtstufigen Skala von 1 = „stimme gar nicht zu“ bis 8 = „stimme voll und ganz zu“ beantwortet wurde. In der Abbildung ist der Wertebereich zwischen 4 und 6 vergrößert dargestellt, um Unterschiede zwischen den Gruppen deutlicher hervorzuheben.

Abbildung 2 Vorhersage des Zugehörigkeitsgefühls durch den Anteil von Erstakademiker*innen im Studiengang nach Bildungsherkunft
Bei einem durchschnittlichen Anteil an Erstakademiker*innen im Studiengang (29 %) berichteten Erstakademiker*innen (grüne Linie) ein niedrigeres Zugehörigkeitsgefühl als Akademiker*innenkinder (braune Linie). Dieser Unterschied im Zugehörigkeitsgefühl zugunsten der Akademiker*innenkinder war dabei umso größer, je geringer der Anteil an Erstakademiker*innen im Studiengang war. Wie in Abbildung 2 zu erkennen ist, nimmt das Zugehörigkeitsgefühl von Erstakademiker*innen mit steigendem Anteil an Erstakademiker*innen im Studiengang aber zu, während das Zugehörigkeitsgefühl von Akademiker*innenkindern mit steigendem Anteil an Erstakademiker*innen im Studiengang minimal abnimmt. Ab einem Anteil an Erstakademiker*innen von etwa 55 % kehrt sich die zuvor beobachtete Differenz im Zugehörigkeitsgefühl um, und nun berichten Erstakademiker*innen von einem höheren Zugehörigkeitsgefühl als Akademiker*innenkinder.
Zusammenfassend legen die Ergebnisse nahe, dass Erstakademiker*innen ein niedrigeres Zugehörigkeitsgefühl als Akademiker*innenkinder wahrnehmen, wenn sie im Studiengang in der Minderheit sind. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass das Zugehörigkeitsgefühl von Erstakademiker*innen mit steigendem Anteil an Erstakademiker*innen im Studiengang zunimmt und in Studiengängen mit einem Anteil an Erstakademiker*innen von mehr als 55 % sogar höher ist als das Zugehörigkeitsgefühl von Akademiker*innenkindern. Im Gegensatz dazu scheint der Anteil an Erstakademiker*innen im Studium für Akademiker*innenkinder eine geringere Rolle zu spielen, da es mit zunehmendem Anteil an Erstakademiker*innen nur leicht sinkt. Allerdings waren in der vorliegenden Stichprobe nur sehr wenige Studiengänge mit einem Anteil an Erstakademiker*innen von über 50 %. Fälle in diesem Bereich haben aufgrund ihrer geringen Anzahl nur einen begrenzten Einfluss auf die Schätzung der Regressionskoeffizienten. Zugleich sind die Vorhersagen in diesem Bereich mit größerer Unsicherheit verbunden, da sich die Schätzung auf eine schwächere Datengrundlage stützt.
Die dargestellten Befunde decken sich aber mit bisherigen Forschungsergebnissen, die auf ein niedrigeres Zugehörigkeitsgefühl von Studierenden aus unterrepräsentierten Gruppen (Burfeind et al., 2021; Janke et al., 2024; Museus & Chang, 2021) sowie explizit von Erstakademiker*innen hinweisen (Burfeind et al., 2021; Janke et al., 2024). Ebenso sind die Ergebnisse mit bisherigen Studien vergleichbar, welche auf ein steigendes Zugehörigkeitsgefühl von Schüler*innen mit Migrationshintergrund oder aus ethnischen Minderheiten bei einem hohen Anteil an Mitschüler*innen mit ähnlichem Hintergrund hinweisen (Hornstra et al., 2015; Mok et al., 2016).
Offenbar profitieren Erstakademiker*innen stark davon, wenn in ihrem Studiengang überdurchschnittlich viele Erstakademiker*innen sind, die ähnliche Gewohnheiten und Erfahrungen haben. Dadurch könnte das Studium für Erstakademiker*innen vertrauter wirken und ihr Zugehörigkeitsgefühl gestärkt werden, da sie sich stärker mit den sozialen Strukturen und Werten der Universität identifizieren können (Bourdieu, 1987; Suhlmann et al., 2018). Wie in den Fallbeispielen bei Nara und Ayla deutlich wurde, kann die soziale Zusammensetzung des Studiengangs also beeinflussen, ob Erstakademiker*innen sich zugehörig fühlen. Das Gefühl, nicht allein zu sein, kann für Erstakademiker*innen den entscheidenden Unterschied machen, um sich wirklich als Teil der Universität zu fühlen.
Gleichzeitig scheint der Anteil von Erstakademiker*innen im Studiengang für das Zugehörigkeitsgefühl von Akademiker*innenkindern eine geringere Rolle zu spielen. Allerdings können die Ergebnisse aufgrund des Querschnittsdesigns lediglich Hinweise auf Zusammenhänge geben, lassen aber keine Kausalschlüsse zu. Da sich Erstakademiker*innen seltener an solchen Befragungen beteiligen (Ksiazek, 2020), ist es zudem möglich, dass der Anteil an Erstakademiker*innen in den Studiengängen in der untersuchten Stichprobe unterschätzte wurde.
Trotz dieser Limitationen stellt die Arbeit eine wichtige Basis für weitere Forschungen dar. Sie hat ein bislang wenig erforschtes Thema aufgegriffen und konnte zeigen, dass das Zugehörigkeitsgefühl von Erstakademiker*innen von der sozialen Zusammensetzung des Studiengangs abhängig ist. Im Rahmen meiner Masterarbeit sollen weitere Kontrollvariablen einbezogen werden und zudem auch Masterstudierende untersucht werden. Weiterhin soll darauf aufbauend in der Masterarbeit untersucht werden, ob der positive Effekt eines hohen Anteils von Erstakademiker*innen im Studiengang auf das Zugehörigkeitsgefühl von Erstakademiker*innen darauf zurückgeht, dass sie eine höhere Passung zwischen ihrem persönlichen Umfeld und einem Universitätsstudium wahrnehmen.
Literaturverzeichnis
Bourdieu, P. (1987). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main.
Burfeind, M., Lotze, M. & Wehking, K. (2021). Der Sense of Belonging von Studierenden im Studiengang Lehramt an berufsbildenden Schulen. In: J. v. Grunau & T. Jenert (Herausgeber). Studierende der Berufs- und Wirtschaftspädagogik: (Un-) bekannte Wesen? Bwp @ Spezial 18. S. 1–23. Verfügbar unter: https://www.bwpat.de/ausgabe/spezial-18/burfeind-etal [Stand: 29.10.2025]
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Janke, S., Messerer, L. A., Merkle, B., & Rudert, S. C. (2024). Why do minority students feel they don’t fit in? Migration background and parental education differentially predict social ostracism and belongingness. Group Processes & Intergroup Relations, 27(2), pp. 278-299. Verfügbar unter: https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/13684302221142781 [Stand: 29.10.2025]
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